Blue for Distinction, Red for Correction

curated_by Agnieszka PINDERA | Blue for Distinction, Red for Correction

Ania Bąk

Alicja Bielawska

Agnieszka Grodzińska

Agata Ingarden

Thilo Jenssen

Gizela Mickiewicz

Alona Rodeh

Kuba Stępień

Christine König Galerie, Schleifmühlgasse 1a, 1040 Vienna

https://christinekoeniggalerie.com/exhibitions/50140/christine-koenig-galerie-curated_by-agnieszka-pindera-blue-for-distinction-red-for-correction/installation-views/

Opening days: Friday, September 8 and Saturday, September 9, 12 pm – 7 pm

8 September – 14 October 2023

Tuesday to Friday 10 am – 6 pm & Saturday 11 am – 4 pm

#curatedby2023 @curatedby.at

#christinekoeniggalerie@christinekoeniggalerie

Während seiner Vorlesungen erzählte Roland Barthes seinen Studentinnen und Studenten am Collège de France eine Anekdote: Nachdem er 16 verschiedene Flaschen Sennelier-Tuschen gekauft hatte, verschüttete er zufällig eine davon. Es war eine Flasche mit Tusche eines neutralen Farbtons, die zerbrach. Die Pointe dieser Geschichte bestand in seiner Enttäuschung über die neutrale Farbe, da er erkannte, dass »das Nicht-Klassifizierbare klassifiziert wurde«. Die Lektüre seiner gesammelten Vorträge, die als Anregung für die curated by-Ausstellungen dienten, zwingt einen dazu, eine Strategie des »nuancierten Takts« bei der Interpretation kultureller Codes und kulturellen Schaffens anzuwenden. Nach einer solchen Methode werden Kunstwerke in vier Gruppen unterteilt – Spuren, Wahrnehmungsformen, Hyperrealität, Wechselwirkung –, um die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Praktiken der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler hervorzuheben. Die Ausstellung ist ein entferntes Echo auf Barthes’ Besessenheit von (Schreib-)Materialien und seiner Sensibilität für Farben. »Wir scheuen uns davor, unsere Nachrichten damit zu unterzeichnen«, sagt er, »deshalb schreiben wir in Schwarz; wir erlauben uns nur wohlgeordnete, geradezu symbolische Ausnahmen: Blau zur Unterscheidung, Rot zur Korrektur.«

Spuren

Resting Shapes (2016), eine Reihe von Zeichnungen von Alicja Bielawska, und die Skulptur Equating Experience (2022) von Gizela Mickiewicz leiten sich von ähnlichen Darstellungsarten des Körpers ab. Beide Künstlerinnen beobachteten aufmerksam choreografische Bewegungen, oder in diesem Fall die bewusst auf der Bühne vollzogene Stille (Bielawska) sowie unbewusstes Alltagsverhalten (Mickiewicz). Modeling Shapes (2016), eine andere Zeichnungsfolge von Bielawska, entstand als ein Nebenprodukt ihrer Zusammenarbeit mit der litauischen Tänzerin Kristina Aglaja Skaldina. Während ihrer Performance untersuchte Skaldina das choreografische Potenzial weicher Skulpturen, indem sie ein fleischartiges Stück Stoff mit ihrem Körper faltete, dehnte und zerdrückte. Die Spur menschlicher Präsenz wird auch von Gizela Mickiewicz erforscht, die zutiefst persönliche Erfahrungen mit einfachen »universalen« Gefühlen zu einer Form kombiniert. Sie untersucht auch tägliche Gewohnheiten und Routinen (siehe zum Beispiel Future of Decreasing Differences, 2020). Beide Künstlerinnen betrachten die Beziehung des Körpers zu seiner Umwelt und vermeiden dabei dessen direkte Darstellung.

Wahrnehmungen

Ein gemeinsames Merkmal der Arbeiten von Thilo Jenssen und Agnieszka Grodzińska ist ihre Verwendung von Industriefarben und Harzen, die man in den 1960er Jahren für die Kunst entdeckt hatte. Diese Materialien sind nicht nur hilfreich beim Erzielen der beabsichtigten Wirkung, sondern sind auch kunsthistorisch wertvoll. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie ihre Installationen aus Fundstücken konstruieren – Grodzińska funktioniert nicht mehr genutzte, herrenlose Objekte um, während Jenssen mit Immateriellem wie Liedern, Lyrik und philosophischen Referenzen arbeitet. Beide wählen Materialien, die den Aufbau eines Kunstwerks aus vielen physischen wie auch interpretativen Ebenen ermöglichen. Jenssen legt teilweise die Oberflächen unter Industrielackschichten frei und ist offen dafür, sich vom Material leiten zu lassen und Fehler zu machen. Agnieszka Grodzińska gießt eine Harzlösung über Schutzhandschuhe und eine schützende Glastrennwand, um das narrative Potenzial von Fundstücken zu bewahren, indem sie Denkmäler räumlich-sozialer Distanzierung schafft. Ihre Arbeiten spiegeln auch ein Interesse an Wahrnehmung wider – Jenssen gibt zu, von der Light and Space-Bewegung beeinflusst zu sein, während Grodzińska ihre eigene Forschung zur Psychologie des Sehens durchgeführt hat.

Hyperrealität

Agata Ingarden, die als Teenager eine Science-Fiction-Liebhaberin war, bevölkert ihre skulpturalen Konstruktionen mit brutalen animalischen Formen und Abbildern (un)natürlicher Phänomene. Sie hat Fundstücke aus Mammutbaumholz und verspiegeltem Glas verwendet, um eine massive Skulptur eines ephemeren Ereignisses zu schaffen. Das Blitzen des Titels ist ein kulturell und historisch aufgeladenes Symbol, doch für Ingarden steht das Stück eher mit inneren Gedanken und Gefühlen in Zusammenhang. Außerdem hat die Künstlerin einen Lichtblitz als vereinfachte Libelle geformt, ein Insekt, das mit Wiedergeburt oder Wandel assoziiert wird. Ingarden sucht häufig Inspiration in der Architektur, setzt ihr Ferienhaus in Szene oder funktioniert Gartenmöbel um. Ihre Skulpturen spielen mit dem, was sich vertraut und furchterregend zugleich anfühlt. Die Kunstwerke einer sich kontinuierlich entwickelnden Serie von Alona Rodeh existieren in mehreren Versionen mit unterschiedlichen Enden. CITY DUMMIES, wie sie ihre mit Gaming Engines hergestellte Werkgruppe bezeichnet, erinnert an leere nächtliche Filmsets, die von der animistischen Präsenz von Servicegeräten heimgesucht werden. Innerhalb der generierten Stadtlandschaft registriert Rodeh kaum wahrnehmbare Spuren menschlicher Aktivität außerhalb des Bildschirms wie etwa glimmende Zigarettenstummel (Bollard as Ashtray, 2022/23). Die Farbblöcke der Rücklichter eines Mercedes Benz-Transporters, der sich für eine unbestimmte Aufgabe bereithält (Gearing Up, 2022/23), haben eine starke malerische Qualität, obwohl das Werk in seinem Aufbau vor allem filmischen Charakter hat.

Wechselwirkung

Kuba Stępień konzentriert sich ebenso auf den Prozess wie auch auf die Wirkung. Er plant und legt akribisch die Setzung dessen fest, was er als eine »performative Neuinterpretation von Ereignissen« bezeichnet. Kollaborative Performances sind die Grundlage für seine ein- oder mehrkanaligen Filmarbeiten. Das Stück mit dem Titel All the Stories I Have Ever Told You Were Fiction (2023) ist das Ergebnis improvisierter Aktionen von fünf Teilnehmern. Mittels Montage greift Stępieńauf historische Beispiele für Aufführungen vor der Kamera zurück, insbesondere auf Praktiken von Künstlern, die in Verbindung mit der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater Łódźstehen, wie etwa der Avantgardefilmemacher Józef Robakowski. Bei der Entstehung seines Film im Jahr 2023 konzentriert er sich auf unterschiedliche Bildqualitäten und Körper-Kamera-Beziehungen – während Robakowski seine selbsttherapeutischen Reenactments allein ausführt, beteiligt sich Stępień, in taktile Kostüme gekleidet, an spielerischen kollektiven Aktionen. Taktilität ist auch bei Ania Bąks Gemälden eine wichtige Eigenschaft. In ihren Bildern kombiniert sie leichten, transparenten Tüll mit schwerer Leinwand, Farbschichten und objets trouvés wie Zeitungsausschnitten, Edelsteinen und Reißverschlüssen, um emotionalen Zuständen und beobachteten Beziehungen eine Form zu verleihen. Bąks intime und dennoch multisensorische Leinwandarbeiten entstehen durch Rekonstruktion und gestische Malerei. Ihr künstlerisches Verfahren ähnelt den modernen malerischen Experimenten von Joan Mitchell (mit Massen pulsierender und dynamischer Farben) und den sensorischen Collagen der Neoavantgardekünstlerin Teresa Tyszkiewicz (die »Leinwand«-Fragmente zusammenfügt).

(Text: Agnieszka PINDERA, 2023, Übersetzung: Eva Dewes)

Die Ausstellung findet statt im Rahmen von curated by – Das Galerienfestival mit internationalen Kuratorinnen und Kuratoren in Wien.

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During his lectures at the Collège de France Roland Barthes shared with students an anecdote: Once, after buying sixteen various bottles of Sennelier inks, he accidentally spilled one of them. It was a bottle of Neutral ink that broke. The punch line of this story was his disappointment with the Neutral colour when he recognized that »the unclassifiable is classified«. Reading his collected lectures, which served as the impulse for the curated by exhibitions, compels one to adopt a strategy of »nuanced tact« to interpret cultural codes and production. According to such a method, artworks are classified into four pairings—Imprints, Perceptivities, Hyperreality, Reciprocity—to emphasize the relations between the different practices of the participating artists. The exhibition is a distant echo of Barthes’s obsession with (writing) materials, and his sensitivity to colour. »We are afraid to sign our messages with it«, he says, »that is why we write black; we only allow ourselves well-ordered, flatly emblematic exceptions: blue for distinction, red for correction.«

Imprints

Resting Shapes (2016), a series of drawings by Alicja Bielawska, and the sculpture Equating Experience (2022) by Gizela Mickiewicz derive from similar notations of the body. Both artists carefully observed choreographic movements, or in this case, stillness intentionally performed on stage (Bielawska) and unconscious everyday behaviour (Mickiewicz). Modelling Shapes (2016), another of Bielawska’s drawing series, emerged as a byproduct of her collaboration with the Lithuanian dancer Kristina Aglaja Skaldina. During the performance, Skalinda investigated the choreographic potential of soft sculptures by folding, stretching, and crushing a fleshy piece of cloth with her body. The imprint of human presence is also investigated by Gizela Mickiewicz who combines deeply personal experiences with basic »universal« emotions into one shape. She also examines daily habits and routines (e.g. Future of Decreasing Differences, 2020). Both artists look at the body’s relationship to its environment while avoiding its direct representation. 

Perceptivities

A shared feature of the work of Thilo Jenssen and Agnieszka Grodzińska is their use of industrial paints and resins, discovered for the arts in the 1960s. These materials are not only useful for achieving the intended effect, they are also of value to art history. Another similarity is how they build their installations of found materials—Grodzińska repurposes abandoned objects, while Jenssen works with the intangible, such as songs, lyrics and philosophical references. Both choose materials that allow for the construction of an artwork of many layers, physical as well as interpretative. Jenssen partially uncovers the surfaces under coats of industrial paint, and is open to being guided by the material and to make mistakes. Agnieszka Grodzińska pours a resin solution on protective gloves and on a protective glass divider to preserve the narrative potential of found objects by creating monuments of social distancing. Their works also reflect an interest in perception—Jenssen admits to being influenced by the Light and Space movement, while Grodzińska has conducted her own research into the psychology of vision. 

Hyperreality

A sci-fi lover as a teenager, Agata Ingarden populates her sculptural constructions with bestial shapes and likenesses of (un)natural phenomena. She has used found pieces of sequoia wood and mirrored glass to create a solid sculpture of an ephemeral event. The lightning of the title represents a loaded cultural and historical symbol, but for Ingarden the piece connects rather with inner thoughts and feelings. Moreover, the artist has shaped a flash of light as a simplified dragonfly, an insect associated with rebirth or transition. Ingarden often seeks inspiration in architecture, stages her vacation house, or repurposes garden furniture. Her sculptures play with what feels familiar and eerie at the same time. The artworks of an evolving series by Alona Rodeh exist in multiple versions with different endings. CITY DUMMIES, as she calls her body of work created with gaming engines, is reminiscent of vacant movie sets at night, haunted by the animistic presence of service devices. Within the generated cityscape, Rodeh registers barely the noticeable traces of offscreen human activity, such as smoldering cigarette butts (Bollard as Ashtray, 2022/23). The blocks of colour from the rear lights of a Mercedes-Benz van prepared for an undetermined task (Gearing Up, 2022/23) have a strong painterly quality, although the work is primarily cinematic in its set-up.

Reciprocity

Kuba Stępień is focused as much on the process as he is on the effect. He meticulously plans and determines the set of what he calls a »performative reinterpretation of events«. Collaborative performances are the basis for his single- or multi-channel film works. The piece titled All the Stories I Have Ever Told You Were Fiction (2023) is a result of improvised actions undertaken by five participants. Through montage, Stępieńdraws from historical examples of performing for the camera, especially the practices of artists associated with the ŁódźFilm School, such as the avant-garde filmmaker Józef Robakowski. Making his film in 2023, he focuses on different qualities of image and body-camera relations—while Robakowski executes his self-therapeutic reenactments alone, Stępień, dressed in tactile costumes, joins playful collective actions. Tangibility is also an important quality of the paintings by Ania Bąk. In her works she combines light transparent tulle with heavy linen canvas, layers of paint, and found materials e.g. press clippings, zircon gemstones or zippers, to give form to emotional states and observed relations. Bąk’s intimate yet multisensory canvases are generated through reconstruction and gestural painting. Her process resembles the modern painterly experiments of Joan Mitchell (with masses of pulsing and dynamic colour) and the sensory collages of the neo-avant-garde artist Teresa Tyszkiewicz (who stitches »canvas« fragments).

(Text: Agnieszka PINDERA, 2023)

This exhibition takes place within curated by– The gallery festival with international curators in Vienna.

About the Curator

Agnieszka Pinderais the Head of the Research Center at the Muzeum Sztuki in Łódź. She is the author of the biography of Józef Patkowski, the founder of the Polish Radio Experimental Studio, a center established in 1957 to stimulate experimental interdisciplinary work. Agnieszka Pindera has curated several group exhibitions, among them the Avant-garde Museum (with Jarosław Suchan) as well as solo presentations of Jasmina Cibic, Nikita Kadan (with Alona Karavai and Anna Potiomkina) and an exhibition by Konrad Smoleński at the Polish Pavilion during the 55th International Art Exhibition—La Biennale di Venezia (with Daniel Muzyczuk).